Wann sollen JournalistInnen die Herkunft von Tatverdächtigen nennen? Die neue Richtlinie des Presserats verleitet zu Zirkelschlüssen und Framing.

Der oben zitierte Tweet ist mir heute aufgefallen. Er verlinkt auf einen Offenen Brief der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung „Journalismus auf Augenhöhe“ im November 2017 in Darmstadt vom 25. Januar 2018.

Die TagungsteilnehmerInnen setzen sich kritisch mit der neuen Richtlinie 12.1 des Presserats vom 22. März 2017 auseinander. In diesem Teil des Kodex geht es um die Frage, wann JournalistInnen die Herkunft von Tatverdächtigen nennen sollen.

Beim Presserat findet man eine Gegenüberstellung von alt und neu.

Bisherige Richtlinie 12.1 – Berichterstattung über Straftaten

In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Neue Richtlinie 12.1 – Berichterstattung über Straftaten (Gültig ab 22.03.2017)

In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse.

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Quelle: Presserat (PDF)

Die Kritik im Wortlaut:

„Insbesondere die Formulierung, für die Erwähnung der Zugehörigkeit zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten solle ein „begründetes öffentliches Interesse“ bestehen, erscheint den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern dieses Briefes als Einladung zum Zirkelschluss:

Das öffentliche Interesse wird durch die Medienberichterstattung hergestellt. Ein Narrativ des öffentlichen Diskurses, das einer bestimmten Minderheit ohne Sachbezug Straftaten unterstellt, könnte ein solches öffentliches Interesse begründen und würde dadurch Vorurteile verfestigen.

Zudem stellt sich die Frage, wie man den sehr unscharfen Begriff eines „öffentlichen Interesses“ definiert und wer entscheidet, wann es begründet ist. Mit der neuen schwammigen Formulierung wird den Redaktionen keine Entscheidungshilfe mehr an die Hand gegeben.

Sich an einem begründeten öffentlichen Interesse zu orientieren und diskriminierende Berichterstattung zu vermeiden, ist für seriösen Journalismus selbstverständlich. Der Paragraph könnte in seiner jetzigen Form ersatzlos gestrichen werden.

Wir halten es allerdings für wichtig, dass der Presserat zu dieser gesellschaftlich relevanten Frage Stellung nimmt. Die alte Formulierung der Richtlinie, nach der ein begründeter Sachbezug gefordert war, formulierte eine klare Position

Nach unserer Ansicht bestand kein Anlass, diese Formulierung zu ändern.

Die Neufassung berücksichtigt zu wenig, dass Fakten stets im Kontext sogenannter Frames von Journalistinnen und Journalisten versehen und vom Publikum rezipiert werden.

Vorurteile sind in solchen Frames und Narrativen zwischen den Zeilen enthalten, oft ohne dass deren diskriminierender Gehalt rkennbar ist. Sie werden auf diese Weise reproduziert.“

Quelle: https://www.schader-stiftung.de/fileadmin/downloads/pdf/PDF_dynamische_Contents/Projekte_2017/V_17-22_Journalismus_in_der_Krise/Offener_Brief_zu_Richtlinie_12.1._des_Pressekodex.pdf

Link zur Tagung der Schader-Stiftung: https://www.schader-stiftung.de/themen/kommunikation-und-Kultur/fokus/journalismus/artikel/journalismus-auf-augenhoehe-das-publikum-die-glaubwuerdigkeit-und-die-neuen-kommunikationsstile/

Der Name der Heimat-Wurst … – Hui oder Pfui ?

Zoom schrieb am 02.01.2018 über Büdchen- resp. Kioskkultur im Ruhrgebiet.

Seine die „Moralvorstellungen“ (**) der damaligen Zeit treffend beschreibende Formulierung

„Ich musste manchmal Binden einkaufen, Camelia. Die wurden dann in Zeitungspapier eingewickelt und ins Einkaufsnetz gepackt. Binden durften nicht öffentlich gezeigt werden.“

erinnert mich an eine Begebenheit aus den 1970ern.

Wir lebten anno 1976 ff. in Bochum. Direkt neben der „Bude des Vertrauens“ – („Vollsortiment“: 1-Pfennig-Bonbons bis St. Pauli Nachrichten als „Bückware“ …) – befand sich eine familiär geführte Metzgerei.

Eines Tages hatten wir Sauerländer richtig Schmacht auf was heimisches. Ich also spätnachmittags in die Metzgerei … – Bude voll, weil nach Feierabend wurde für nächsten Tag eingekauft.

Verkaufsgespräch (wie in etwa in Erinnerung):

Junge Frau (vermutlich Lehrling): „Sie wünschen …?“
B.S.: „Haben Sie Rinderpümmel?“
Junge Frau: „Was bitte …?“
B.S.: „Na, Rinderpümmel.“

Dieser Dialog wiederholte sich – verbunden mit fortschreitender Verunsicherung und zunehmender Errötung des Kopfes der Verkäuferin – mehrfach.

Mittlerweile schauten weitere anwesende Kunden mich durchaus fragend an …!

Plötzlich öffnet sich die Pendeltür zwischen Wurstküche und Verkaufsraum. Es erschien eine Dame der „Tana Schanzara-Klasse“:

„Elfie, ich habe eben mitgehört. Der Mann will nix schlimmes. Der kommt aus dem Sauerland und möchte Rinderwurst kaufen.“

Hmmm, die Situation des Verkaufsgesprächs ins Twitter/facebook/FakeNews-Zeitalter transformiert:

„Verkäuferin verstört. Langhaariger Kunde will in Bochumer Metzgerei Rinderp(?)mmel kaufen.“

» Rinderpümmel und Bundespolitik – Der Spiegel, 1984

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(**) Die öffentlich lautstark gestellte Frage „Tina, wat kosten die Kondome?“ war noch ganz weit weg.

In Memoriam Heinrich Böll

Heinrich Böll – *21.12.1917 · †16.07.1985

Heinrich Theodor Böll gilt als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Im Jahr 1972 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, mit welchem seine literarische Arbeit gewürdigt wurde, „die durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt hat“.

In seinen Romanen, Kurzgeschichten, Hörspielen und zahlreichen politischen Essays setzte er sich kritisch mit der jungen Bundesrepublik auseinander. Darüber hinaus arbeitete er als Übersetzer englischsprachiger Werke ins Deutsche und als Herausgeber.
Quelle: Wikipedia

https://www.youtube.com/watch?v=fPRwBUYP-xo

» Versuch, ein Image zu zerstören – Der Spiegel, 21.07.1975
Besprechung eines als Taschenbuch (Titel: Drei Tage im März) erschienenen Interviews.
Heinrich Böll / Christian Linder(**) – Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1975

Ein Hauptstück des Gesprächs beschäftigt sich mit dem, was Böll die „Philosophie der Abfälligkeit“, die „terroristische Hygienekultur“ und den „neudeutschen Wilhelminismus“ nennt, mit seiner Kritik an einer Gesellschaft der Adretten und Schneidigen, der emotionsarmen und moralisch unsensiblen „Fertigen“.

» Spiegel-Artikel inkl. Interview-Auszug als PDF-Datei

» Dossier 100 Jahre Heinrich Böll – Deutschlandfunk

» WDR5 | ZeitZeichen | 21.12.2017, 9.45 Uhr
Geburtstag von Heinrich Böll

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Video-Link: https://www.youtube.com/watch?v=_SzFKdz1ASs

(**) Man beachte das fehlende „n“: also Christian Linder, nicht Christian Lindner 😉

Ein kleines Experiment auf dem Weg zum Podcast: Victor Klemperer und die LTI – ungeschnitten, roh und rau.

Experimente am offenen Herzen. Primat der Technik, aber Inhalte sind auch dabei. (foto: zoom)

Ich habe heute ein kleines Experiment gewagt und mein Aufnahmegerät ausprobiert. Ich hätte das Grundgesetz, den Wetterbericht oder meine Telefonrechnung vorlesen können, habe mich aber für einige Absätze aus Victor Klemperers LTI (Lingua Tertii Imperii) [1] entschieden.

Viktor Klemperer untersuchte live, also während er als Deutscher jüdischen Glaubens „als intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft“[2] versuchte, den deutschen Faschismus zu überleben, die Sprache des sogenannten „Dritten Reichs“.

Wer das Buch liest, kann einem großen deutschen Intellektuellen beim Denken zuschauen.

Ich lese das Porträt des Autors auf Seite 3, sowie den Beginn des Kapitels XXX: Der Fluch des Superlativs Seite 275/276, dazwischen ein paar Kapitelüberschriften.

Die Aufnahme habe ich bis auf die Umwandlung von wav in mp3 nicht bearbeitet. Beim ersten und zweiten Hören sind mir eine Menge Fehler/Schnitzer aufgefallen, sowohl im Detail als auch im Großen und Ganzen.

Aber irgendwo muss man ja anfangen, es sei denn, man hörte schon vor dem Beginnen auf.


 
Es würde mich freuen, wenn die LTI wenigstens eine neue LeserIn gewänne. Zwei und mehr wären auch in Ordnung. Lasst euch durch meinen Podcast nicht abschrecken.

Lesen ist seliger denn Hören … oder so.

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[1] Victor Klemperer, LTI, Leipzig 1975, Reclam Verlag, 20. Auflage, 2005. Text nach LTI, 3. Auflage, Halle (Saale) 1957

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer

Umleitung: vom Lob der negativen Kritik bis zum Mythos 1968

Vor dem Sonnenuntergang noch schnell eine Runde drehen (foto: zoom)

Lob der negativen Kritik: Wenn man sich in aktuellen Debatten ablehnend zu Vorschlägen aus dem Bereich der Bildung unter den Bedingungen der Digitalität (kurz: „digitale Bildung“) äußert, d.h. wenn man z.B. das Konzept des FlippedClassrooms, den Einsatz von Kahoot, H5P etc. kritisiert, trifft man immer häufiger auf das folgende argumentative Muster … axelkrommer

Projekt-Ende Flipped Classroom – ein Fazit: „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.“ Dieser Auszug aus einem Liebesgedicht von Goethe passt für mich in einer augenzwinkernden Weise zur aktuellen Diskussion um den Flipped Classroom … flippedmathe

Lafontaine und Wagenknecht liegen falsch: Die sächsische LINKE-Politikerin Juliane Nagel fordert einen kosmopolitischen Kurs für ihre Partei ein – die nicht trotz, sondern wegen ihrer Flüchtlingspolitik gewählt wird … neuesdeutschland

Oberbürgermeister Burkhard Jung: Sachsen nach der Wahl – Der Musterknabe hat sich verrechnet … leipzig

AfD – doppelter Boden: Wenn schon blaumachen, dann auch richtig. Der Schmierenkomödiant Pretzell und sein völkisches Wurfgerät Petry haben vorgesorgt und mehren ihren Besitz. Mit diversen Doppelmandaten … zynaesthesie

Was hat Ihnen die Wahlkampfsprache gesagt? „Es wird Zeit“ oder „Warten wir nicht länger“ – wir möchten heute mit Ihnen über Worte, Worthülsen und Politik sprechen … rbb

Medien: David Schraven reagiert auf Studie über Correctiv … turi2

Es dreht sich alles um die Uhr: Die Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie stehen fest … scilogs

Neuerscheinung zur Geschichte der Berliner Secession: Die Berliner Secession, als deren wesentlichen Exponenten Max Liebermann, Walter Leistikow, Lovis Corinth und Max Slevogt, gelten, spaltete sich 1913 … berlinerarchive via planethistory

Politik im (polnischen) Fussball-Stadion: Charakteristisch für das polnische Fanmilieu ist, dass sich die Fans nicht direkt in der politischen Szene engagieren – sich sogar konsequent und demonstrativ von ihr abgrenzen, indirekt jedoch einen wachsenden Einfluss auf das politische Leben in Polen ausüben … publicHistory

Dortmund: Gedenken an ZwangsarbeiterInnen im Zweiten Weltkrieg. Rat beschließt Bau einer Gedenkstätte am Phoenix See … nordstadtblogger

Mythos 1968: Mit großem Interesse erlebe ich, wie die Zeit meiner Jugend auf verschiedene Art und Weise und zu unterschiedlichen Themen in Museen und Ausstellungen präsentiert wird … oelderanzeiger

Umleitung: Die Nazi-Sprache der AfD, Trumps täglicher Irrsinn, Rechtsextremismus in der Elitetruppe, Mobbing in Redaktionen, Nitrate im Trinkwasser und mehr.

Der Obelisk in KasseI auf dem Königsplatz: I was a stranger and you took me in (foto: zoom)

Obelisk in Kassel – AfD spricht von „entstellter Kunst“: „Die Wortwahl weckt Erinnerung an den Begriff „entartete Kunst“, mit dem in der NS-Zeit Kunst diffamiert und verboten wurde, die nicht in das nationalsozialistische Welt- und Menschenbild passte“ … spiegel

AFD-Petry darf angeklagt werden: Verdacht des Meineids. Der Sächsische Landtag hebt den Abgeordnetenschutz der AfD-Frontfrau auf … taz

Rechtsextremismus und KSK-Eliteeinheit: Hitlergruß und fliegende Schweineköpfe … zeit

Trump responds to Barcelona attack by reviving debunked myth: Donald Trump responded to the Barcelona attack by reviving an already debunked anecdote about a US general dipping bullets in pig’s blood to fight Islamic militants over a hundred years ago … guardian

Charlottesville: Trump’s Full Remarks on the Violence in Charlottesville, Virginia … haaretz

NRW und das Funke Medien Imperium: Bielefelder Staatsrechtler Gusy hält Medienminister Holthoff-Pförtner für nicht tragbar … nw

Niedersachsens Grüne warfen die SPD aus der Bahn: Schulz und Weil – Wahlkampf als Traumtanz … postvonhorn

Schulsystem: Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif … fr

Die Stimmung in Redaktionen ist an einem neuen Tiefpunkt: „Eine gehörige Zahl von Redakteuren, mit denen ich seit Jahren über digitale Themen streite, zucken nur noch mit den Schultern. Statt darüber zu streiten ob und wie sich mit Journalismus im Internet Geld verdienen lässt, demonstrieren sie Fatalismus. Quer über mehrere Verlagskonzerne berichten sie von despotischen Vorgesetzten, die Mitarbeiter weg haben wollen – und weil das Geld für Abfindungen nicht mehr da ist werden Mittel eingesetzt, die mit Mobbing beschrieben werden dürfen“ … indiskretion

Hohe Nitrat-Werte in Marsberg? Im Stadtgebiet von Marsberg sollen die Nitrat-Werte im Vergleich zu anderen Kommunen im HSK überdurchschnittlich hoch sein. Das ist keine Neuigkeit. Darüber ist schon mehrfach in den Medien berichtet worden … sbl

Zu guter Letzt Punkrock Holiday 1.7 – oder: Scheißegal, wer mit wem schlief … endoplast

Moin! Husum, Piraten, Schaufensterpuppen und der Strand von Sylt.

Das Morgenlicht scheint im Husumer Binnenhafen. (fotos: zoom)

Das „Moin!“ in Nordfriesland ist eine Art Rundumsorglosbegrüßung. Morgens, mittags, abends – mit „Moin!“ liegt man anscheinend immer richtig.

Der Doppelvokal „oi“ wird dabei nicht kurz und knapp gesprochen wie in „Moin, Moin“, sondern beide Selbstlaute klingen lang und gut voneinander unterscheidbar. Für mich hört es sich wie „Mooh-hiihn“ an. Gewöhnungsbedürftig.

Für 31 Euro sind wir heute mit dem Zug von Husum nach Westerland auf Sylt und zurück gefahren. Mit diesem Schleswig-Holstein-Ticket hätten wir einen Tag lang von 9 bis 3 Uhr des Folgetages flexibel durch ganz Schleswig-Holstein fahren können. Das Ticket gilt in allen Nahverkehrszügen in der 2. Klasse in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern (Busse ausgenommen) sowie in Hamburg in allen Verkehrsmitteln der HVV-Ringe A und B (Schnellbusse ausgenommen).

Am Bahnhof von Westerland fiel mir ein ironisches Wahlplakat der Piraten zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein am 7. Mai 2017 auf.

Sarkasmus, Selbstironie oder Galgenhumor? Wahlplakat der Piraten auf Sylt. 2012 hatte die Piraten noch 8,2% der Stimmen erhalten.

Unser Ziel war der Strand. Über der Friedrichstraße auf dem Café Leysieffer wurden drei bemalte männliche Schaufensterpuppen (oder etwa nicht?) von der Sonne beschienen.

Was will mir Westerland sagen?

Blau, grün, rot und schwarz bemalte Gesellen ohne primäre Geschlechtsmerkmale. Schaufensterpuppen?

Auf den Strand kamen wir erst nach Zahlung der Kurtaxe von 2 Euro pro Person am Kassenhäuschen. Aber dann wurde es ein schöner Spaziergang entlang der Meereslinie bei auflaufender Flut.

Alles richtig gemacht. Timing, Wetter – es passte.

Es war noch nicht viel los, und das war gut so.

Soeben als Buch erschienen: Das Gesamtwerk von Ferdinand Wagener, geboren in Steinsiepen (Gemeinde Finnentrop) und Mescheder Heimat-/Sauerlandverleger

Ferdinand Wagner (1902-1945): Gesammelte Werke in sauerländischer Mundart, nebst hochdeutschen Texten. (bild: peterbuerger)
Ferdinand Wagener (1902-1945): Gesammelte Werke in sauerländischer Mundart, nebst hochdeutschen Texten. (bild: peterbuerger)

Dr. Ferdinand Wagener (1902-1945), geboren auf dem entlegenen Kleinbauernhof Steinsiepen (Kirchspiel Schliprüthen) und seit Schultagen in der Heimatbewegung aktiv, entscheidet sich nach einer rätselhaften Vergiftung gegen den eingeschlagenen Weg zum Priesterberuf.

Er schreibt Heimatbücher, promoviert in Freiburg (Zweitgutachter Martin Heidegger), wird sauerländischer Verleger und kämpft um seine wirtschaftliche Existenz. Als Soldat stellt er 1943/44 alle eigenen Dichtungen in Manuskriptbänden neu zusammen: „Vielleicht … bin ich bald tot.“

Auf der Grundlage des Nachlasses erschließt dieses Buch das plattdeutsche Gesamtwerk und eine Auswahl hochdeutscher Lyrik. Einige bislang unbekannte Texte weisen Wagener als einen Autor von Rang aus. Die autobiographischen Erzählungen „Ächter de Kögge“ erhellen die Hütekinderzeit und das Leuteleben der katholischen Landschaft.

Die literarische Spurensuche gilt auch Wageners ideologischer Kooperation ab 1933.

Vorgelegt wird diese von Peter Bürger und Wolf-Dieter Grün bearbeitete Edition zum Literaturprojekt des Christine Koch-Mundartarchivs am Museum Eslohe in Kooperation mit dem Heimatbund Gemeinde Finnentrop e.V.

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FERDINAND WAGENER (1902-1945): Gesammelte Werke in sauerländischer Mundart, nebst hochdeutschen Texten. Norderstedt: BoD 2017. [ISBN 978-3-7431-7570-9; Paperback; 612 Seiten; Preis 18,90 €]
https://www.bod.de/buchshop/gesammelte-werke-in-sauerlaendischer-mundart-ferdinand-wagener-9783743175709

Als Matthias Kerkhoff (CDU) mal einen Seitenhieb gegen Dirk Wiese (SPD) austeilte: „Ich sag‘ mal was mit ‚postfaktisch‘ drin.“

„Ein Wirtschaftsstaatssekretär ohne jemals in der Wirtschaft gearbeitet zu haben. Das ist postfaktisch.“ (postfotofaktisch: zoom)

Ha, ha! … auf der Krönungsmesse für den CDU-Bundestagswahlkandidaten Patrick Sensburg hat der CDU-Kreisvorsitzende und Landtagsabgeordnete Matthias Kerkhoff mal so richtig einen rausgehauen.

Zumindest, so viel Wahrheit muss sein, wenn ich der „Fake-News-Maschine Lügenpresse“ glauben darf.

Also hier die Fakten: Der Zeit seines Lebens hart in der Wirtschaft arbeitende Herr Kerkhoff „entlarvt“ den Bundestagswahlkandidaten Dirk Wiese, welcher gerade auf der politischen Karriereleiter in Berlin ein großes Treppchen höher geklettert ist, mit folgender messerscharfer Analyse:

„Ein Wirtschaftsstaatssekretär ohne jemals in der Wirtschaft gearbeitet zu haben. Das ist postfaktisch.“

Mein lieber Herr Kerkhoff, soweit ich das aus dem hohen Hochsauerland beurteilen kann, ist der Berufspolitiker Dirk Wiese wirklich, gewissermaßen faktisch, Wirtschaftsstaatssekretär geworden, während ihr Berufspolitiker Patrick Sensburg mit 93% zum Bundestagskandidaten der CDU für den Wahlkreis 147 (Hochsauerlandkreis) bestimmt worden ist, ebenfalls faktisch.

Fakt ist auch, dass Matthias Kerkhoff, Berufspolitiker, Kauderwelsch redet.

Postfaktisch aber ist, dass Herr Kerkhoff den SPD-Kandidaten Dirk Wiese einen wunderbaren, volksnahen Politiker genannt hat und die Lügenpresse daraus „Ein Wirtschaftsstaatssekretär ohne jemals in der Wirtschaft gearbeitet zu haben. Das ist postfaktisch“ gemacht hat.

Kleiner Tipp: in den Spiegel schauen und „Max Weber, Politik als Beruf“ lesen.

Wort des Jahres 2016: Postfaktisch

Beim Lesen getroffen: Arbeitszombies

Geht es euch auch manchmal, öfter oder selten so, dass ihr beim Lesen eines Buches plötzlich auf eine Stelle trefft, die ohne Umweg direkt in der Magengrube wirkt?

Bei einem Abschnitt aus Juli Zehs Roman „Unterleuten“ ist mir genau das kurz vor dem Einschlafen passiert, und mir gingen die Sätze auch in den nächsten Tagen nicht aus dem Kopf.

Jetzt schreibe ich sie einfach auf:

„Die jungen Leute von heute besaßen erstaunliche Talente. Zum Beispiel ungeheure Effizienz bei vollständiger Abwesenheit von Humor. Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen. Keine Fehler zu begehen und dadurch unangreifbar zu werden. Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Laufe ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten. Heraus kamen Arbeitszombies, die keine Angst davor hatten, von einem Dorfmob aufgemischt zu werden. Was waren ein paar gebrochene Rippen gegen den Horror, die Erwartungen der Firma nicht zu erfüllen?“

In den Tagen „danach“, also nach dem Lesen, bin ich durch mein Leben gewandelt und habe die Zombies gesucht. Menschen die ihre Seelen mit Schichten von Leistungsbereitschaft panzern.

Habe ich sie gefunden? Das verrate ich nicht. Die Zeilen von Juli Zeh verfolgen mich auch heute Abend noch.

„Armes Würstchen, dachte Arne, hielt aber den Mund.“

Prosa und Dichtung. Verdichtung. Eine ganze Generation? Horror.

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Juli Zeh, Unterleuten, München 2016, Kapitel 10 „Seidel“, Lizenzausgabe Büchergilde S. 151f.