Die Sorgen des Deutschen Adels

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Sans Souci - doch der Deutsche Adel ist nicht ganz ohne Sorgen (foto: zoom)

Spätestens seit Karl Theodor zu Guttenberg wissen wir, dass der Deutsche Adel, auch 93 Jahre nach seiner Abschaffung als Stand, noch quicklebendig ist.

Allerdings können wir auch am Beispiel von zu Guttenberg erkennen, dass ein Leben als Adliger nicht nur sorgenfrei ist. So folgte auf die kometenhafte akademische und politische Karriere der rasante Fall.

Die Landung war sozial und politisch hart, wurde aber durch die gute materielle Ausstattung der Familie weich abgefedert. Dennoch sollen hier die aktuellen Probleme des Adels keinesfalls kleingeredet werden.

Gehören Sie zum ‚Historischen Adel‘ oder zum ‚Neuen Adel‘?

Der Adelsverband beispielsweise beschäftigt sich akribisch mit der Unterscheidung zwischen ‚historischem‘ Adel und ’neuem‘ Adel. Insbesondere durch die Namensrechtsreform der 70er Jahre wurde es auch Männern möglich, den Familiennamen ihrer Frau anzunehmen. Man stelle sich vor, wie schnell dadurch der Adel zahlenmäßig vergrößert wird. Und wenn viele dem Adel angehören, dann wird der Adel plötzlich ganz gewöhnlich.

Der Deutsche Adelsrechtsausschuß befasst sich daher genau mit dieser wichtigen Abgrenzungsfrage. Dort heißt es:

Das Adelsrecht beruht auf dem uralten über 1000 Jahre alten Salischen Recht, wonach der Stand eines Menschen sich nach dem Stand des Vaters bzw. Mannes richtet. Danach folgt die Vererbung des Adels nur dem Mannesstamme (mas a mare) und gehört zum historischen Adel nur, wer durch eheliche Geburt vom adeligen Vater abstammt oder als Frau einen adeligen Mann geheiratet hat.

Noch einmal zur Erinnerung: Der Adelsstand wurde in Deutschland 1919 abgeschafft. Und ein wenig frauenfeindlich und aus der Zeit gefallen klingt der Text allemal. Aber bei einer so sehr der Tradition verpflichteten Gemeinschaft ist das wohl kein Wunder.

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Screenshot Hamburger Abendblatt Artikel vom 07.03.2011 (screenshot 28.01.2012 chris)

Adlige Sorgen mit den Klassenkameraden

Neben den Sorgen um die vielen Möchtegern-Adligen muss sich der Adelsnachwuchs mit den Vorurteilen der Klassenkameraden herumschlagen.

Wie das Hamburger Abendblatt in seinem distanzlos netten, aber leider kostenpflichtigen Artikel über eine Feier der Vereinigung des Adels in Hamburg und Schleswig-Holstein schreibt, werden den jungen Von und Zus Fragen wie „Lebt ihr auf einem Schloss?“ oder „Habt ihr einen Helikopter?“ gestellt. Da muss sich erst einmal eine Antwort finden.

Die netten Seiten des adligen Lebens:
Presented by DIE WELT

Nun aber Schluss mit den Sorgen. Adlig sein kann auch schön sein. Zumindest in Hamburg. DIE WELT berichtet regelmäßig in der Rubrik „Wo trifft man Sie?“ darüber, welche Stadtteile die Hanseatinnen und Hanseaten mit meist langen und umständlichen Namen bevorzugen, in welchen Läden sie was kaufen und wo sie am liebsten ihren Latte Macchiato trinken, bzw. zum Brunch einkehren.

Es kann so schön sein, das Leben zwischen Läden am Neuen Wall, an den Großen Bleichen und am Mittelweg,  zwischen Wohnungen in der Hafencity, Eppendorf und Nienstedten. Angesichts der vielen Sorgen, die sie umtreiben, sei den Deutschen Adligen dieser kleine Luxus gegönnt.

DerWesten skalpiert Banker – dilettantisch oder subversiv?

Bisher war Der Westen, Das Portal der WAZ Mediengruppe, nicht gerade für ungewöhnlichen und gewagten Bildausschnitte bekannt. Heute hingegen wollten die Macher des Onlineauftritts offensichtlich neue Wege gehen und veröffentlichten dieses Bild:

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Die Lokalausgabe Winterberg, Medebach, Hallenberg (screenshot: chris)

Offen bleibt jedoch, aus welchem Grund die Köpfe abgeschnitten, bzw. die betroffenen Herren skalpiert wurden. Hat da ein überarbeiteter Mitarbeiter in der Eile den falschen Ausschnitt gewählt? Oder protestiert hier ein Online-Redakteur, der seine Kündigung bereits erhalten hat? Oder möchte DerWesten mit neuen Mitteln neuer Leser an sich binden? Wir wissen es nicht.

Rückblick: Fährverbindung Hamburg – Harwich

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Aufnahme vom Deck des Fährschiffs aus Harwich: Hamburger Landungsbrücken während der Feierlichkeiten zum 800. Hafengeburtstag im Sommer 1989 (fotos: chris)

1989: Blick vom Deck der „England-Fähre“ auf die Landungsbrücken, auf die Jugendherberge, Bismarck, den Fernsehturm, den alten Elbtunnel und das Hotel Hafen Hamburg.  Regelmäßig  verkehren die Schiffe der Reederei DFDS zwischen der Hansestadt Hamburg und der englischen Hafenstadt Harwich. Die Fährverbindung  ist eine Institution.  Die Fahrt dauert 22 Stunden, der Reisende verbringt somit fast einen Tag und eine Nacht auf See.

Das Schiff verfügt über Mehrbettkabinen unterhalb der Wasserlinie (günstig, aber nur für klaustrophobie – freie Seefahrer geeignet), Innen- und Außenkabinen mit zwei oder vier Betten und ganz oben befindet sich ein Raum mit Flugzeugsesseln. Letztere verursachen die geringsten Kosten, erlauben aber nur den sehr erschöpften Reisenden eine Portion Schlaf. Es ist kein Traumschiff, dennoch ähnelt diese Reise einer kleinen Kreuzfahrt.

Diese Schiffsreise bietet viel Zeit zum Reden, Lesen, Lachen, Denken und bei ruhiger See auch zum Essen und Trinken. Es gibt tatsächlich Zeitgenossen, die selbst bei starkem Wellengang noch richtig zulangen können. Ja, die gibt es.

Am schönsten ist die Fahrt auf der Elbe

Von Harwich kommend fahren die ‚Admiral of Scandinavia‘ oder die ‚Prinz Hamlet‘ mehr oder weniger gemächlich über die Nordsee. Rund vier Stunden vor der Ankunft in Hamburg erreicht die Fähre bei Cuxhaven die Elbe. Das raue Meer verlassend, tuckert das Schiff nun den Fluss hinauf, an Deichen, Schafen, Kernkraftwerken, Dörfern, Höfen und Apfelplantagen vorbei.

Die Einfahrt nach Hamburg ist stets spektakulär. Vom Deck aus blicken die Reisenden auf Blankenese,  Teufelsbrück, Övelgönne und den Hafen. Vom Fischmarkt  fährt der Ankömmling an den bunten Häusern der Hafenstraße vorbei und abschließend dreht das große Schiff langsam auf der Elbe um an den Landungsbrücken anzulegen. Es bleibt genügend Zeit für Fotos.

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England-Fähre legt an den St. Pauli - Landungsbrücken an

Das Ende des langsamen Reisens

Diese kleine Kreuzfahrt war ein Erlebnis, und die Welt berichtete 2002 wehmütig vom Ende einer Institution: Die Kosten wären zu hoch, die Fahrgastzahlen zu niedrig. Die Linie DFDS sparte die Fahrt durch die Elbe ein und verlegte den Anleger nach Cuxhaven.

Das Jahr 2005 markierte endgültig das Ende der Strecke Cuxhaven – Harwich. Die Verbindung wurde eingestellt und damit verschwand die letzte Fährverbindung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien. Grund war, so der Spiegel,  die Konkurrenz durch Billigfluglinien. Das langsame Reisen passte einfach nicht mehr in unsere beschleunigte Zeit.

California here I come: Der XII. und letzte Teil des Reiseberichts. Santa Mónica

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Auf der letzten Etappe seiner Reise besucht er die Villa Aurora, den Zufluchtsort deutscher Literaten und Philosophen während der Nazi-Diktatur.
 

Auf der Suche nach Miramar, dem Asyl der deutschen Exilantengemeinde

Morgens ging der Bus im Zehnminutentakt den Hollywood Boulevard westwärts an den Strand des Pazifiks. Keiner der Einheimischen kennt natürlich den Treffpunkt deutscher Exilierter vor und während des 2. Weltkriegs, und so muss man sich am Straßennamen der Homepage der Villa Aurora orientieren: Miramar, Meeresblick, was darauf schließen lässt, dass das Asyl der deutschen Exilantengemeinde sich nahe am Strand befindet. Und tatsächlich kann man von der letzten Tankstelle direkt an der Kreuzung vorm Strand, wo die Buslinie endet, in 20 Min. den Hügel hinaufsteigen, wo die Villa Aurora liegt, die dem jüdischen Emigrantenehepaar Feuchtwanger gehörte.

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Strandpromenade im nördlichen Santa Monica (fotos: weber)

Deutsch- Amerikanischer Kulturaustausch unterwegs

Auf dem Weg dorthin unterhielt ich mich ich an der Bushaltestelle mit einem älteren Schwarzen, den ich nach dem Weg fragte. Nachdem ich erklärt hatte, was die Villa Aurora sei, entspann sich ein Gespräch um Vietnam, obwohl heutigentags in Kalifornien das Problem weniger die Asiaten als vielmehr die Mexikaner seien, weil die sich ungehemmt fortpflanzen und so in Zukunft die Mehrheitsgesellschaft bilden würden.

Er habe in Vietnam gekämpft und viele Kameraden dort sterben sehen. Es seien viele Kriegsverbrechen begangen worden und er, der ehemalige Vietnamkämpfer, assoziierte mit den US-Kriegsverbrechen die Verbrechen wider die Menschlichkeit in Nazideutschland, wo 15 Mill. Juden in den Konzentrationslagern umgebracht worden wären. Ich entgegnete, die Geschichtsforschung in Deutschland gehe von 6,2 Mill. ermordeten Juden aus. Nein, es seien 15 Mill., eher mehr gewesen; er habe darüber neulich erst eine Dokumentation gesehen und ich als Angehöriger der jungen Generation solle mich besser informieren.

Andere Länder, andere Sitten: Ungewohnt in den USA ist doch immer wieder diese erstaunliche Mischung aus Xenophobie und selbstkritischer Haltung. Man merkt, dass die geschichtliche Diskussion in den USA nicht derart diskursivisiert und damit ideologisch begradigt und auf den Nenner gebracht ist wie in Deutschland, wo beipielsweise mit der Bundeszentrale für politische Bildung gar ein staatliches Institut für eine offizielle Geschichtsschreibung nach dem Rückfall in die Barbarei gegründet wurde.

Außerdem merkt man, wie zwischen den Zeilen immer ‚mal wieder mitschwingt, dass Deutschland wie eine Art demokratisches, überhaupt kulturelles Entwicklungsland angesehen wird, dem die US-Amerikaner Kultur gebracht hätten. Wie unterschiedlich ist doch das Selbst- und Fremdbild, und vielleicht ist es zur Völkerverständigung besser, dass wir beide von Alteuropa sprechen, womit aber der US-Amerikaner mit Dick Cheney das des Kalten Kriegs meinen und wir unser Alteuropa, als einige Protestanten infolge des englischen Bürgerkriegs mit der May Flower ins gelobte Land aufbrachen. Man möchte sich im Urlaub auf dem Weg zur Villa Aurora nur ungern streiten.

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Die Villa Aurora

Die Villa Aurora heute

Heutzutage restauriert eine Kulturstiftung aus Berlin, eben Villa Aurora genannt, dieses Kleinod am Pazifik, mit dem Goethe-Institut in L.A. kooperierend und mit der University of California/ Los Angeles sowie mit dem Konsulat der deutschen Botschaft. Im Haus leben drei bis vier Künstler und Schriftsteller, die zumeist selbst aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Ein Stipendium gewährt ihnen einen viertel- bis halbjährigen unbeschwerten Aufenthalt für die für Kunst dringend benötigte Muße.

Das Interior ist belassen oder i.S. des ursprünglichen Ambientes rekonstruiert: Unter dem Wohnzimmerboden verlaufen zum andern Raumende die Schallrohre der Orgel, mit der die Feuchtwangers Gästen aufspielten, um die gezeigten Stummfilme zu orchestrieren. Im Wohnzimmer, im Esszimmer, im Arbeitszimmer befinden sich rund 20.000 Bände der von Lion Feuchtwanger in den Vereinigten Staaten wieder aufgebauten Bibliothek der Weltliteratur.

Hakenkreuze im Lüftungsschacht

Im Esszimmer ragte vom Regal in den Durchgang ein wahrer Schinken Goya; ihm gegenüber an der Wand unten im Regal sah man den Beginn eines Lüftungsschachtes, in dem auch Heizungsamaturen hervorlugten und dessen Gitterform ein Hakenkreuz war: eines links herum, wie aus der Zeit der nationalsozialistischen Bewegung bis 1934 und eines rechts herum, wie die Welt es danach in Erinnerung behielt. Erst wusste ich nicht, ob die Schachtabdeckung zufällig dieses Ornament angenommen hat. Aber durch Zeit und Ort und die Urlaubsatmosphäre so sehr vom Hitler-Deutschland getrennt, merkt man erst nach einiger Verunsicherung, wie schwer von Begriff man zuweilen ist.

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Im Esszimmer: sattsam bekannte Ornamente vor dem Abzugsschacht

Die Sache mit Feuchtwanger

Eine nettes Ritual, das die Germanistikstudentin erklärte, die mir die Villa und ihre Zeit kompetent nahe gebracht hatte, bestand darin, dass man statt eines Eintritts Geld zum Wiederaufbau der Villa zum Kulturort spenden solle, wofür man sich aus dem Eingangsregal einen Einband Feuchtwanger noch aus den Beständen des Berliner Aufbauverlags zu DDR-Zeiten mitnehmen durfte.

Ich musste der Germanistikstudentin gestehen, dass ich noch nichts von Feuchtwanger gelesen habe; sie ihrerseits konnte mir keinen Band empfehlen, da sie gerade erst begonnen habe, intensiv Feuchtwanger zu lesen. So rätselten wir also vor den Titeln, und ich entschied mich für Goya – wahrlich ein stilistisches und auch philosophisches Lesevergnügen dieses nach dem Krieg meistgelesenen deutschen Autoren, der in meiner Generation leider untergegangen ist. Aber er wird nur in meiner Generation mehr oder weniger untergehen, denn gute Weltliteratur hat Muße und kann auf die Rezeption künftiger Generationen bauen.

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Der Germanist und die deutsche Literatur

Ich hoffe, mein literarischen Urteil hat keine gönnerhaften, unfreiwillig komödiantischen Züge, über die sich Adorno bei jenem Deutschlehrer belustigte, der Nietzsche gelobte habe, weil der ein stilistisch so gutes Deutsch geschrieben hätte. Aber in unseren heutigen Zeiten hat sich zum Glück die Hoch- der Unterhaltungskultur angenähert, sodass die subjektive Rezeption ihr Eigenrecht jenseits der Standards des universitären Bildungsbürgertums hat, das seit je eifersüchtig über seine Pfründe der richtigen Exegese wacht, um den Zugang zu den Bildungspatenten zu monopolisieren, mit dem es sich von den anderen Schichten der Gesellschaft differenzieren kann.

In der Villa Aurora traf sich einst der Höhenkamm der deutschen Literatur und Philosophie, etwa Thomas Mann, Ernst Bloch, die Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wie Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm sowie Maler und bildende Künstler. Sie alle hatten es geschafft, vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus und europäischen Faschismus nach Übersee zu fliehen, und gingen hier ihrer jeweiligen Arbeit weiter nach. „California here I come: Der XII. und letzte Teil des Reiseberichts. Santa Mónica“ weiterlesen

Rezension: ‚Da drin ist es mir zu laut!‘ Schulgeschichten von Reinhold Miller

Schulgeschichten
Schulgeschichten

„Da drin ist es mir zu laut!“ heißt die 84-seitige Broschüre mit Schulgeschichten, erzählt von Reinhold Miller.  Der Autor ist pensionierter, passionierter und promovierter Pädagoge und er berichtet aus dem Schulalltag.

Das Heft versammelt kleine, unterhaltsame Geschichten, die er in seiner langjährigen Berufstätigkeit erlebte und die den Blick auf die Beziehungen der an Schule Beteiligten öffnen sollen. Im Vorwort bekennt Miller: „Am meisten habe ich von den Kindern und Jugendlichen gelernt. Ihnen gilt mein besonderer Dank.“

Millers Ziel ist ein menschliches Miteinander, die gegenseitige Achtung, die Begegnung auf Augenhöhe. Schüler, Lehrer und Eltern, diesen drei Gruppen widmet er sich in seiner Broschüre.

Die Geschichten „Über Kinder und Jugendliche“ stehen unter dem Motto „Verstehen und verstanden werden“. Die unterhaltsamen Texte sind Momentaufnahmen aus dem Schulalltag und gleichzeitig stehen sie stellvertretend für stets wiederkehrende Situationen und Begegnungen. Hier ein Beispiel:

2. Klasse
Die Katze war das Thema in den letzten Stunden.

Nun will der Lehrer die Wahrnehmungsfähigkeit
und das Wissen der Kinder überprüfen.

Er gibt ihnen ein Arbeitsblatt, auf dem eine Katze
abgebildet ist – ohne Schwanz.

Darunter die Frage:
Was fehlt der Katze?

26 Kinder notieren ihre Antwort auf das Blatt,
25 davon schreiben: ein Schwanz.

Marlies jedoch hat geschrieben:
ein Schälchen Milch.

Als sie es vorliest, lacht niemand.

Ein kollektives Nachdenken hängt im Raum.

Nicht einmal der Lehrer hat diese Antwort erwartet.
* * * * * * * * * *
Die Welt der Menschen
ist voller Wahrnehmungen,
Ideen, Fantasien und Deutungen.
Auch die Welt in der Schule… (S. 10)

Miller fordert die Lehrer auf, die Vielfalt des Denkens, der Wahrnehmung, der Erfahrung und Empfindungen  von Schülern zuzulassen und als Bereicherung zu begreifen. Der erfahrene Autor pädagogischer Bücher und Hefte  erzählt jedoch auch schlimme Geschichten von zynischen Lehrern. Hier Pauls Erlebnis:

2. Klasse
Der achtjährige Paul gibt sich große Mühe
beim Schreiben.

Seine Zunge spitzt durch die Zahnreihe,
sein Kopf hängt über dem Blatt Papier,
seine Nase ist fast auf gleicher Höhe
wie sein Schreibstift.

Mehrmals geht der Lehrer an ihm vorbei,
sieht nur seine falsch geschriebenen Wörter
und verbessert sie mündlich,
streng in der Stimme.

Bei der nächsten Runde bemerkt er,
wie Paul vor sich hin schluchzt –
und sagt darauf zu ihm:

Musst nicht heulen,
es lohnt sich bei dir sowieso nicht.
* * * * * * * * * *
Wie es wohl Pauls Seele durch
diesen verbalen Killer ergeht? (S.12)

Das ist so fies. Aber wer kennt nicht diese gemeinen, verletzenden Sprüche von Lehrern, die einem ewig im Gedächtnis bleiben? Sie haben halt so tief getroffen. Und dagegen schreibt Miller an, er möchte eine andere, eine menschlichere Schule. Er erzählt Geschichten aus allen Altersstufen und jede für sich regt zum Nachdenken an.

Von Schülern, die sich nicht alles gefallen lassen, handelt diese Geschichte:

12. Klasse
Keine Frage, als Fachmann für Deutsch und Englisch ist
Herr O. Experte.
Als Lehrer ist er gefürchtet – und seinen ironischen und
abfälligen Bemerkungen, seinen Bloßstellungen ist
niemand gewachsen.

Interventionen seitens der Schulleitung, der Eltern und
der Schulbehörde nutzen nichts. Noch immer kann er sich
an der Schule halten.

Bis eines Tages die beiden Klassensprecher einen
externen Beratungslehrer um Hilfe bitten…

Wieder einmal eine Unterrichtsstunde mit Herrn O.,
in der er ausfällig wird.

Plötzlich stehen alle Schülerinnen und Schüler auf,
packen ihre Sachen zusammen und verlassen schweigend
das Klassenzimmer.
* * * * * * * * * *
Wenn man den anderen nicht ändern kann,
so kann man sich und die Umstände ändern. (S.44)

Wenn die Schüler sich einig sind, dann können sie viel bewegen. Eine wichtige Erfahrung.

Ein weiteres Kapitel widmet Reinhold Miller den Lehrerinnen und Lehrern. Er empfielt klare Grenzen, genaue Absprachen, Offenheit und Ehrlichkeit. Er berichtet von  erfüllten und unerfüllbaren Erwartungen. Im Umgang mit Antipathien von Lehrern gegenüber Schülern läßt er eine Lehrerin das ‚Umdeuten‘ vorschlagen:

XIV
Ich hab ein paar in der Klasse,
die sind mir so richtig unsympathisch,
stöhnt Frau L.
Was soll ich bloß mit denen anfangen?

Bewertungen ändern und umdeuten,
meint daraufhin eine Kollegin.

Und wie mache ich das?

Indem du hinter die unsympathischen Verhaltensweisen
guckst:
Hinter der Überheblichkeit vielleicht die Unsicherheit
siehst,
hinter der Arroganz vielleicht die Hilflosigkeit,
hinter der Süffisanz vielleicht die eine oder andere Angst,
hinter der Kaltschnäuzigkeit die Not…
* * * * * * * * * *
Umdeuten bringt Verstehen,
Verstehen erleichtert den Zugang,
Zugänge eröffnen Begegnungen. (S.63)

Der letzte Teil der Schulgeschichten handelt von Müttern und Vätern. Es gelingt Miller in wenigen kurzen Texten, einen ganzen Fächer von Problemen im Verhältnis von Eltern auf der einen und Lehrern/Schule auf der anderen Seite zu entfalten:
Die Angst des Deutschlehrers vor dem Vater mit Germanistikprofessur, die Angst der Eltern vor dem Scheitern der eigenen Kinder. Miller nennt jedoch auch Beispiele für Offenheit: Ein qualifizierter Vater bietet sich an, Vertretungsunterricht zu erteilen und – was fast noch erstaunlicher ist – es kommt dazu.

In der folgenden Geschichte geht es um Ängste,  die Eltern verstummen lassen:

IV
Wieder einmal gibt es Beschwerden in der 6. Klasse
über einen Lehrer.

Vor dem Elternabend findet ein heftiger Disput statt.
Während der Versammlung wird über alles Mögliche
gesprochen, nur nicht über den Konflikt.
Anscheinend wagt es niemand von den Eltern,
das Thema zur Sprache zu bringen.

Einem Freund gegenüber äußern sich die
Elternvertreter:

Wir haben Angst, dass der Lehrer unsere Kritik
in den falschen Hals bekommt und seinen Ärger
dann an unseren Kindern auslässt.

Das war doch früher bei uns auch so
und ist heute nicht anders.
* * * * * * * * * *
Die Angst der Eltern vor den Lehrern,
die Angst der Lehrer vor den Eltern:
Die gemeinsamen Ängste
als Gesprächsanlass! (?)
(S.75)

Mein Fazit: Die Geschichten von Reinhold Miller geben viel Stoff zum Nachdenken und sie können enorm ermutigen. In Zeiten, in denen an den Schulen das Wort Pädagogik  durch Begriffe wie Qualitätsanalyse, Qualitätsmanagement, Kompetenzerwerb und Controlling ersetzt wird, ist es  erfrischend und motivierend Texte zu lesen, die wieder die dort agierenden Menschen und ihr Miteinander in den Mittelpunkt stellen.

Die Broschüre enthält zahlreiche kurzweilige und bewegende Geschichten, sodass alle an Schule Interessierten dort Anregungen finden können. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre für SchülerInnen, LehrerInnen, Mütter und Väter.

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Verfasser Dr. Reinhold Miller ist Autor zahlreicher Bücher, Beziehungsdidaktiker, Lehrerfortbildner, Schulberater, Kommunikationstrainer und Coach.

Die Broschüre „Da drin ist es mir zu laut! Schulgeschichten“ kostet
€ 5,- je Expl. (zzgl. Versand) und kann bestellt werden bei:

Bundesverband Aktion Humane Schule e.V.
Rathausplatz 8 – 53859 Niederkassel
E-Mail: ahs@aktion-humane-schule.de
Tel.: 0 22 08 / 90 96 89, Fax: 90 99 43
Internet: www.aktion-humane-schule.de

Bertolt Brecht: Über Bestechlichkeit

Über Bestechlichkeit

Als Herr Keuner in einer Gesellschaft seiner Zeit von der reinen Erkenntnis sprach und erwähnte, daß sie nur durch die Bekämpfung der Bestechlichkeit angestrebt werden könne, fragten ihn etliche beiläufig, was alles zu Bestechlichkeit gehöre. „Geld“, sagte Herr Keuner schnell. Da entstand ein großes Ah und Oh der Verwunderung in der Gesellschaft und sogar ein Kopfschütteln der Entrüstung. Dies zeigt, daß man etwas Feineres erwartet hatte. So verriet man den Wunsch, die Bestochenen möchten doch durch etwas Feines, Geistiges bestochen worden sein, und: man möchte doch einem bestochenen Mann nicht vorwerfen dürfen, daß es ihm an Geist fehle.

Viele, sagt man, ließen sich durch Ehren bestechen. Damit meinte man: nicht durch Geld. Und während man Leuten, denen nachgewiesen war, daß sie unrechterweise Geld genommen hatten, das Geld wieder abnahm, wünscht man jenen, die ebenso unrechterweise Ehre genommen haben, Ehre zu lassen.

So ziehen es viele, die der Ausbeutung angeklagt werden, vor, glauben zu machen, sie hätten das Geld genommen, um herrschen zu können, als daß sie sich sagen lassen, sie hätten geherrscht, um Geld zu nehmen. Aber wo Geldhaben herrschen bedeutet, da ist herrschen nichts, was Geldstehlen entschuldigen kann.

Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt am Main 1980, S. 72 f.

California here I come: Reisebericht Teil XI – Los Angeles, Teil 3. Die Antwort lautet weder L. A. noch ’42‘, sondern Dortmund-Nord.

 

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute streift er durch einige Museen von  Los Angeles und beantwortet die Frage: Dortmund-Nord oder L.A.?

Museum of the West

Am letzten Tag meines Aufenthalts spazierte ich Meile um Meile zum Zoo, dem gegenüber das Museum of the West lockt. Ein schönes Museum, das den Wilden Westen und seine Eroberung thematisiert. Es gibt Originalbüchsen und Revolver von Buffalo Bill und Billy the Kid und Wyatt Earp – und all jenen Western-Helden? Das Kind in jedem Manne fühlt sich an selige Sonntagnachmittage mit Westernfilmen und Karl May-Schinken erinnert.

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Wandbild der Hollywoodgrößen beim Hollywood Boulevard (alle fotos: christopher)

Höhepunkt der Ausstellung ist ein chronologischer Gang durch das Westerngenre im Film und die Originalkostüme der Revolverhelden bis hin zu „Brokeback Mountain“, in dem schwule Cowboys eine Liebesromanze in der rauhen Natur der Rocky Mountains Colorados durchleben dürfen. Das Ausstellungskonzept will die Mythisierung des Wilden Westens durch den Film durchbrechen, ebenso durch die Ausstellung von Tagebüchern, die einen guten Eindruck vom Selbstbild und den Impressionen der ersten weißen Siedler im Westen geben.

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Im Museum of the West

Ausstellungsdidaktik von 1950

Aber dem kritischen Citoyen fällt auf, dass den Genozid an den American Natives so gut wie gar nicht vorkommt: Nur der Schlacht am Little Bighorn von 1876, in der Häuptling Sitting Bull, Crazy Horse und Big Foot das 7. Kavallerieregiment unter General G.A. Custer besiegte, wird gedacht; Custer habe laut Museumstafel recht eigenmächtig, auch befehlswidrig gehandelt. Von den systematisch staatlich geschaffenen und gesellschaftlich getragenen Strukturen des Genozids abgelenkt, der hier zu einer Westernschlacht verharmlost wird, welche in der Darstellung des Museums unterschwellig vermittelt, dass die Indianer sie wegen unkooperativen Verhaltens im Grunde genommen auch mitverschuldet hätten, erinnert das Museum an europäische Kolonialmuseen ohne kritische Aufarbeitung der Ausstellungsdidaktik, also an 1950.

Es scheint, als sei konsensfähig, dass das Museum den heiklen Teil der Geschichte des Umgangs mit den Ureinwohnern eher verschleiere als offenlege, was in einem demokratischen und zivilisierten Land, das ja Wortführer der Werte der westlichen Welt sein will, eigentlich ein Skandal ist, aber nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass z.B. die Atombombentests der 1950er Jahre in der Nähe von Indianerreservaten in New Mexico und v.a. Nevada durchgeführt wurden.

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Heroisierendes Wandgemälde im Westernmuseum

Die Antwort lautet weder L. A. noch ’42‘, sondern Dortmund-Nord.

Und wo bleibt das Positive? Was ich ganz vergaß: ein wirklich nicht-provinzielles, kosmopolitisches Museen hat L.A. mit dem LACMA (Los Angeles County Museum of Modern Art) dann doch, aber die Kardinalfrage des Lebens, wo man leben möchte, muss ich so beantworten: dann doch lieber Dortmund-Nord.

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Eingang zum Los Angeles County Museum of Modern Art (LACMA)

California here I come: Reisebericht Teil X – Los Angeles, Teil 2

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute streift Christopher  zu Fuß und mit der Metro durch die Autostadt Los Angeles. Über seine sehr persönlichen Eindrücke berichtet er hier.

Bei Wanderungen durch die Stadt von vier, fünf Stunden hätte ich die Menschen, denen ich auf den Bürgersteigen begegnete und die verstohlen herüberlugten, an der Hand mitzählen können.

 

Ein Artikel im „Spiegel“, der sich 1982 mit der Innenstadtgestaltung L.A.s befasste, sprach noch von der gegenteiligen Hoffnung der Stadtplaner:

„[Bunker Hill, downtown L.A.] soll Los Angeles endlich jene Silhouette verleihen, die von den Skyline-besessenen Amerikanern an dem Häuserteppich so schmerzlich vermißt wird. Sie soll aber auch noch etwas anderes bringen, was es in diesem Drive-in-Dschungel bislang so gut wie nicht gab: Fußgänger-Bereiche.“ (aus dem Spiegel Nr. 52, 36. Jg., 27.12.1982, Karl-Heinz Krüger: Städtebau, S. 114-119)

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Bunker Hill in Downtown Los Angeles (alle fotos: christopher)

Stets allein in einer Millionenstadt

So etwas wie Bunker Hill Downtown habe ich persönlich noch nie gesehen, und wer weiß, vielleicht gibt es so etwas erst wieder in Omsk in Sibirien. Im Zentrum des L.A.-Ballungsgebiets muss wohl der Kern der Anti-Materie sein, um welche die Physiker so trefflich streiten. Denn auch auf meinen Urlaubsfotos sind in der Stadtmitte dieser sogenannten Megacity keine drei Menschen zugleich drauf; es ist unheimlich; man ist stets allein und doch im Bewusstsein, dass dies eine Mehr-Millionenstadt sein soll. Aber hier liegt der Denkfehler: L.A. ist halt eine Agglomeration aus hundert Dörfern und keine Stadt.

Der Fußgänger, das fremde Wesen

Im Nachruf zu den Planungen zur Belebung des öffentlichen Raums in den 1980er Jahren muss man feststellen, dass es jetzt Bürgersteige und eine Minicity auf Bunker Hill für Fußgänger gibt; dort, wo auch das Stadtmuseum oder die neue Philharmonie vom Architekten Frank Ghery hinbetoniert wurde. Aber es gibt keine Fußgänger. Als Fußgänger ist man in L.A. suspekt, etwas Fremdes, deshalb toleriert Sittenloses, solange es fremd bleibt.

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Zentrumsplatz mit sozialistischem Wohnschick – „Suchbild Mensch“ in der Zehnmillionenmetropole an einem Werktag

L.A. zwischen deutscher Provinz und sozialistischem Plattenbau

Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass die Häuser um den einfallslos hochgepäppelten Platz auf Bunker Hill an deutsche Kleinstädte nach der Entkernung der 1960er Jahre erinnern, nachdem das deutsche Wirtschaftswunder zu viel Geld in die kommunalen Kassen geschwemmt hatte, um das, was der Krieg von den Altstädten noch übrig gelassen hatte, zu sanieren und damit vollends zu zerstören.

So strahlt auch Bunker Hill etwas von einer Eisdiele Rio Alto vor bronzener Sprengelanlage, also Brunnen des örtlichen Provinzkünstlers ab, leicht süßsaurer, katholischer Hauch.

Oder aber L.A. will sich konsequent mondän geben und heraus kommen Plattenbauten, die man aus dem real existierenden Sozialismus kennt. Selten hat es der Städtebau so auf die Spitze des schlechten und wohl auch verzweifelten Geschmacks getrieben. Ich habe immer die Behauptung vertreten, dass so hässlich wie im Sozialismus sonst nirgendwo Städtebau getrieben worden wäre, aber hier komme ich ins Zweifeln. Der Spiegelautor Karl-Heinz Krüger fasste sein ästhetisches Gefühl 1982 in folgende Worte:

„Tatsächlich hat die Downtown von Los Angeles bislang nicht viel zu bieten. Das Sammelsurium der ersten neuen Wolkenkratzer ist weder für die Baukunst noch für das Stadtbild ein Gewinn. Die hohen Hülsen stehen fremd und verschlossen am Straßenrand, das spiegelgläserne fünfzylindrige Bonaventure Hotel erhebt sich über einem hohen Betonsockel, der so einladend wirkt wie ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg.“

Innenstadt als großer städtebaulicher Murks

Dies Gefühl, eigentlich in einer Ruine des öffentlichen Raums angekommen zu sein, pflanzt sich im großen Unbehagen unter den Menschen fort. Stets hat man das Gefühl, eigentlich nicht wohin, also zum Ziel, sondern nur ziellos weg zu wollen. Die Innenstadt ist großer städtebaulicher Murks, und deshalb will niemand freiwillig ins Zentrum, das nachts zudem, weil ausgestorben, zu allem Überfluss gefährlich wird.

Schon tagsüber bestimmen auf den paar öffentlichen Plätzen verwahrloste Obdachlose das Stadtbild und ihr Gebettel das Sozialklima. Man fragt sich, wie es eigentlich die Angelinos in ihrer Stadt auf Dauer so aushalten, die dem Touristen aus andern Weltteilen leicht als dreckiger Witz der Postmoderne vorkommen mag. Ästhetische Genusswerte kann man in dieser selten geschichts- und gesichtslosen Stadt keine konsumieren, nur Smog, dumm-aggressive Sprüche und Fastfood.

Das Ruhrgebiet kann man wenigstens mögen

Wie wohltuend ist noch jede Stadt der Ruhrgebiets-Agglomeration dagegen, wo jede Ecke lebt, jeder Kiez seinen eigenen Sound spricht. Zwar ist es wahrlich kein Vergnügen, eher ein echtes Abenteuer durch Zeit und Raum, Menschen, Länder, Abenteuer, früh Abends die 120 km S-Bahn von Düsseldorf nach Unna zu nehmen. Ein echt „assiges“ Erlebnis der schlimmsten Sorte erwartet einen – der lieben betrunkenen Pöbler wegen, dann ist da der Schienenersatzverkehr, der zuweilen geschlagene 2 Stunden durch das südlich angrenzende Tal der Wupper kurvt, um von Bochum nach Dortmund zu kommen, sodass man als Tourist garantiert nie wieder das Ruhrgebiet betritt – aber jede Ecke atmet autochthon und authentisch. Man muss es wohl mögen, aber man kann, und das ist der Unterschied zu L.A.

Auf der Flucht

Zimmernachbarn in meiner Unterkunft wurden rasch vom L.A.-Syndrom befallen und begannen regelmäßig nach einem einzigen Tag über die Stadt zu klagen, am zweiten Tag äußerten sie beklemmende, klaustrophobische Vorstellungen und dass sie wegwollten und nur hier wären wegen des nicht umbuchbaren Flugs, dass sie sich deprimiert fühlten beim Gedanken, morgen noch einmal einen ganzen Tag in dieser Stadt verbringen zu müssen – danach wälzte einjeder intensiver den Stadtführer, um den Notausgang zu finden, oder ging zwecks Realitätsflucht verschärft ins Kino

Die Stadt Los Angeles wird oft von Soziologen hermeneutisch zerlegt, um stadtsoziologische Expertisen á la Experiment der Postmodernität an den Mann zu bringen. Das Problem ist, dass die Stadt schlicht langweilig ist und im Grunde genommen mausetot. Deshalb ja auch der Glanz der Filmindustrie, damit überhaupt etwas los ist. Hier tut der schöne Schein Bitternot, der ein Drittel des Aufkommens der städtischen Volkswirtschaft in die wirtschaftlichen Kapillaren pumpt.

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„Whisky a go go“ – legendäre Bar des Musik-Showbiz

‚So alone‘

Am vorletzten Tag ging ich vom Walk of Fame, dem proletaroiden Abschnitt des gefeierten Hollywood Boulevards hinunter zum Whisky a go go, wo The Doors einen ihrer ersten Auftritte hatten und Jim Morrison offenbar das Dilemma in L.A. Woman besang, dass, wie man es auch macht, mit oder ohne Auto, man es in dieser Stadt nur falsch anpacken kann:

Drivin‘ down your freeways
Midnite alleys roam
Cops in cars, the topless bars
Never saw a woman…
So alone, so alone
So alone, so alone

Mit der Metro in die falsche Richtung
Es ist schon eine seelenlose Veranstaltung mit L.A. Nachts fühlt man sich auf den Straßen nicht sicher, Sperrstunde der Freiheit, und tagsüber darf man mit der Metro auch nicht in die falschen Viertel wie South Central Los Angeles fahren. Dort war ich am zweiten Tag unterwegs. Jedoch häufte sich von Station zu Station das jugendliche Gangunwesen aufdringlicher und aggressiver Schwarzer mit einem lautstarken Gehabe wie aus dem ortsüblichen Gangsterfilm, sodass ich lieber schnellstmöglich abgedreht habe, zumal ich, je tiefer in die Vororte fahrend, als einziges Bleichgesicht im Waggon saß und unangenehm angeglotzt wurde. Weiter fuhren nur muslimische Proselytenmacher, die den Koran unters Volk bringen wollten. Inschallah und Gott sei mit ihnen!

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South Central Los Angeles – heimeliges Viertel, netter Ausblick!

Verbrechen und Glamour

Abends dann erlebte ich auch prompt die erste Schießerei in meinem Leben. Der Seitenflügel der Herberge ging zu einem Parkplatz hinaus, woneben sich eine alt-eingesessene Diskothek befand, der gegenüber eine neue Bar an diesem Abend eröffnet hat. Der Türsteher der alten Bar muss im Laufe des Abends dem Türsteher der neuen Bar den Platzhirschen gegeben und sich infolgedessen mit ihm überworfen haben, sodass der eine Gorilla dem andern in den Arm schoss. Peng! – Die Nacht zuvor hatte unweit am Boulevard bereits eine Bar eröffnet und man sah, wie in einer Traube von Journalisten Brad Pitt die Bar verließ. – Also kann man sich als Tourist nicht beschweren, nicht das zu bekommen, was der Blockbuster verspricht: Verbrechen und Glamour, ein bisschen Glanz:

„Und damit wurde aus diesen Straßenzügen im Westen von Los Angeles „Hollywood“, das universelle Codewort für die Macht schöner Lügen, für eine Bildsprache, die noch in Karatschi und in Wladiwostok verstanden wird, für großes Gefühl und noch größere Geschäfte. Hollywood sei eigentlich [kein Ort … sondern eine Geisteshaltung] … Mag die Supermacht des Westens auch wanken, diese Kulturleistung wird bleiben: So, wie uns die griechische Antike die Tragödie gegeben hat und das römische Imperium das Recht, so wird von Amerika Hollywood bleiben, und das ist nur ein anderes Wort dafür, dass sich das Leben in einen anrührenden oder optischen Traum verwandeln lässt. … Bilder strömen, täglich, stündlich, wie Erdöl aus einem leckgeschlagenen Bohrloch, hartnäckig, unaufhörlich, ist das gifitg? Wir sind dabei, uns in voralphabetisierte Zeiten zurückzubewegen, in denen die Magie von Bildern und Zeichen gilt und sonst nichts. Wir werden nicht dümmer, aber zunehmend hypnotisierter von unseren erfundenen Legenden, die sich über die Wirklichkeit stülpen … [Zu Beginn] handelte es sich um eine andere, neue „Manifest Destiny“: Die Eroberung des Westens war abgeschlossen, nun sollte die Eroberung der Träume beginnen.“ (Matthias Matussek: Im Kino gewesen. Geweint, in: Der Spiegel 1/2011, 3.1.2011, S. 100 -108)

Hollywood als Soft Power

Ob wir nicht dümmer werden? Wer mag das kollektiv entscheiden können. Aber der Kulturphilosoph Theodor W. Adorno zumindest gab zu, dass die affirmativen Schnulzen der Kulturindustrie seiner Zeit, welche die gesellschaftspolitischen Verhältnissen zur schönen heilen Welt fabulierten, ihn dümmer gemacht hätten. Und in Ermangelung eines modernen Siegfried Kracauers, der die autoritativen Sehnsüchte und Träume des deutschen Publikums analysiert hatte, das damals in der Weimarer Republik vom rechtskonservativen, kaisertreuen Hugenberg-Imperium und der UFA (Universum Film AG) bedient worden war, müssen wir uns bescheiden und es bei der offiziellen Meinung zu Hollywood aus US-Regierungskreisen bewenden lassen, wonach Hollywood und seine miteinander verflochtenen Konzernkartelle in Nachfolge von Paramount (1912), Universal (1912), MGM (1924), Disney, Dreamworks, Miramax, und wie sie alle heißen, eine Soft Power zur Eroberung der Herzen und Gehirne sei, um ihnen den American Dream und American Way of Life einzuimpfen.

Urbanes Wohnen VII – Dallas Suburbia 1994

In loser Folge veröffentlichen wir Fotos aus städtischen Wohnquartieren in Metropolen rund um die Welt.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum amerikanische Häuser bei schweren Stürmen wie Tornados einfach wegfliegen? Warum anschließend nur noch das Betonfundament steht? Hier kommt nun die Antwort:

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Typisches texanisches Wohngebiet heute und damals, einfach zeitlos (alle fotos: archiv chris)

Bewohnt werden diese Eigenheime von Städtern mit mittlerem Einkommen. Die Häuser verfügen über Doppelgaragen, Wohn- und Esszimmer mit Küche sowie mehrere Schlafzimmer, die je ein eigenes Bad bieten.

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Gärten in einem Neubaugebiet bei Dallas 1994.

Der Garten ist von Latten umzäunt, neugierige Blicke des Nachbarn werden abgeblockt, aber auch die eigene Perspektive ist ein wenig beschränkt.

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Neubaugebiet bei Dallas 1994

Die Häuser sind nicht unterkellert. Es wird eine Betonplatte gegossen. Anschließend werden Holzkonstruktionen errichtet, verkleidet und fertig ist das Haus.

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Texanisches Einfamilienhaus im Rohbau.

Bei dieser Bauweise ist dann auch klar, warum diese Hütten bei Windgeschwindigkeiten von mehreren hundert Stundenkilometern einfach wegfliegen. Übrigens würde uns auch unsere mitteleuropäische Architektur nicht vor einem Tornado schützen, da müssten wir schon in einen Bunker umsiedeln.

Umleitung: Von der Nikon D4 zum trinkenden NRW und dann High in the Sky.

Koksen ist achtziger (foto: chris)
Frankfurt im Rausch: koksen ist achtziger (foto: chris)

Nikon D4 – Zwischen Pixelbolide und Technikzweifel: „Trotz überwiegend enthusiastischer Reaktionen der Nikon-Fans entlockt mir der so atemberaubend beschriebene Pixelbolide keinerlei überschwängliche Begeisterung, sondern eher Kopfschütteln“ … heikerost

Der verkorkste Jahresbeginn: Wulff-Krisen-Gewinnler sind die Falschen … nachdenkseiten

Herr Diekmann übt die Metamorphose: Die Wulff-Affäre hat gute Aussichten, in die Geschichtsbücher einzugehen, als Wendepunkt der politischen Kultur in Deutschland … postvonhorn

Eine Salami für Herrn Wulff, gut geschnitten: Schon Stefan Aust und Hugo Müller-Vogg haben ihre Eindrücke vom mittlerweile berühmtesten Anruf der deutschen Nachkriegsgeschichte mitgeteilt. Heute hat sich Hans Leyendecker in der ARD und im WDR geäußert, da durfte die Bild nicht fehlen … wiesaussieht

Übernahme Westfalen-Blatt: Schnelle Aufklärung gefordert … medienmoral

Peymann inszeniert “Dantons Tod”: Posen mit Standbein und Spielbein … revierpassagen

Trinkendes NRW: CDU will Alkohol in der Öffentlichkeit verbieten …ruhrbarone

DGB Hagen zur Rente mit 67: bleibt beim entschiedenen Nein … doppelwacholder

PFT-Skandal: Prozeß gegen den ehemaligen Geschäftsführer und den ehemaligen Betriebsleiter der Firma “GW Umwelt” … sbl

High in the Sky – Der Weg ist das Ziel: Klettern rocks! „Der körperliche Verfall im Verlauf der Erstellung einer studentischen Abschlussarbeit ist erschreckend! Sport fällt naturgemäß flach, da man ja der Meinung ist, sich keine Minute weiter als 20 Meter vom Computer entfernen zu dürfen. Das Fahrrad rostet im Regen vor sich hin und die Joggingschuhe verschwinden nach und nach unter einer schützenden Staubschicht“ … wutzeline