Es schwimmt ein Biber-Butzemann…

Am letzten Abend kam ein Biber (oder ist es eine Nutria? kA) . (foto: zoom)

Am letzten Abend unseres Aufenthalts hat das urbane Ökosystem noch einmal alles gegeben, was Mitte April drin ist. Biber, Sonnenuntergang, Vogelgezwitscher und eine Spiegelung in der Leine.

Wenn man die richtige Stadt erwischt, ist die Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen bei weitem höher als beispielsweise bei uns im Hochsauerland.

Als ich heute ein letztes Mal durch die wunderbaren Stadtbuchenwälder Hannovers geradelt bin, ist mir der elende Zustand der Sauerländer Monokulturen noch einmal schmerzlich bewusst geworden.

Ok, die Kirschen in Nachbars Garten schmecken immer am besten, aber ich kann es drehen wie ich’s will: Schöner ist das Sauerland in den 25 Jahren, die ich nun schon dort oben lebe, nicht geworden.

Abend an der Leine (foto: zoom)

Schluss mit der Nestbeschmutzung. Vielleicht entwickelt sich das Hochsauerland in den nächsten 25 Jahren zu einem wunderbaren, lebenswerten Fleckchen Erde mit richtigen Radwegen und einem schönen Wald. Ich bin skeptisch, aber das darf man ja sein, woll?

Hannover, Linden, Hannah Arendt und ein Falschzitat

Das Geburtshaus von Hannah Arendt, Lindener Marktplatz Nr. 2. (foto: zoom)

Ehrlich gesagt hatte ich mich bis heute nicht mit der Tatsache, dass Hannah Arendt am 14. Oktober 1906 in Linden geboren wurde, befasst.

Eher zufällig bin ich auf der anderen Seite der Leine über den Hannah-Arendt-Platz gestolpert.

Straßenschild am Hannah-Arendt-Platz in Hannover (foto: zoom)

Und da stand es: „in Hannover-Linden geboren[…]“. Linden gehört zwar erst seit 1920 zu Hannover, aber so genau hätte es nicht aufs Schild gepasst.

Neugierig habe ich mich auf die Suche gemacht und ziemlich leicht das Geburtshaus am Lindener Marktplatz gefunden.

Dort gibt es zwei Hinweise auf Hannah Arendt am bzw. um das Gebäude. Einmal eine sogenannte Stadttafel. Sie wurde am 4. Dezember 2015, Arendts 40. Todestag, gemeinsam von Oberbürgermeister Stefan Schostok mit dem damaligen Jugend- und Sozialdezernenten Thomas Walter enthüllt [1].

Die Tafel ist auf dem Bild oben links neben den Markisen unter dem Apotheken-A zu erkennen. Noch weiter unten links findet man die Hausnummer „2“ links an der Tür über den Klingeln.

Die Stadttafel heute (foto: zoom)

Der zweite Hinweis auf Hannah Arendt ist ein Fassaden-Portrait, das man durch einen Seiteneingang von der Falkenstraße aus erreichen könnte, wenn die Tür nicht verschlossen wäre. So musste ich durch die schmutzigen Türscheiben fotografieren.

Das Wandbild ist gelungen, der Spruch problematisch (foto: zoom)

Auf seiner Website schildert der Hannoveraner Grafitti- Künstler BeNeR1 die Entstehungsgeschichte[2]:

„Es gibt einen Seiteneingang von der Falkenstraße aus, der auf einen Hinterhof führt. Diesen wollte die Eigentümergemeinschaft schon lange verschönern. Nach einigen Treffen und vielen Entwurfsvorschlägen stand das endgültige Motiv dann fest und ich machte mich an die Umsetzung.

Im Tunnel malte ich regionale Motive aus Linden, unter anderem den Nachtwächterbrunnen auf dem Marktplatz, den Lichtenbergplatz und das Haus selbst nach einem historischen Foto aus den 20er-Jahren. Diese kleineren Gemälde enstanden in Mischtechnik, dass heißt mit Sprühdose, Airbrush-Pistole und sogar Acrylfarbe.

Das große Portrait von Hannah Arendt im Innenhof entstand gemeinsam mit meinem Atelier-Partner Kevin Lasner von KOarts ausschließlich mit Sprühdosen. Neben das Bildnis malten wir ein bekanntes Zitat von Hannah Arendt:

„Niemand hat das Recht zu gehorchen.“

Leider ist das Zitat ein weit verbreitetes Falschzitat[3]. Es liest sich wieder einmal zu schön, um wahr zu sein.

Die ganze Erklärung lest bitte im Blog „Zitatforschung„. Hier ein Ausschnitt:

„Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Hannah Arendt (angeblich)

„Dieses entstellte Zitat stammt aus einem Radio-Gespräch Hannah Arendts mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964 und ist ein Falschzitat, weil ein entscheidendes Wort fehlt.“

Richtig wäre: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant.“

„In dem Interview geht es unter anderem um die Dummheit des sonst intelligenten Adolf Eichmann, wenn er behauptet, er habe sein Leben lang die Moralvorschriften Immanuel Kants befolgt, Kants Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht und aus Pflicht den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht.“[3]

Hierbei belasse ich es zunächst. Stadtspaziergänge sind anstrengender als Landradtouren (siehe gestern).

Gute Nacht!

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[1] https://www.hannover.de/Wirtschaft-Wissenschaft/Wissenschaft/Initiative-Wissenschaft-Hannover/HANNAH-ARENDT-TAGE/Hannah-Arendt-in-Hannover/Hannah-Arendt-Stadttafel

[2] http://www.bener1.de/fassadengestaltung-geburtshaus-hannah-arendt/

[3] https://falschzitate.blogspot.com/2017/07/niemand-hat-das-recht-zu-gehorchen.html

„Die drei warmen Brüder“: Heizkraftwerk Linden

Idyllisches Hannover: das Heizkraftwerk Linden

Auf der Kulturseite der Stadt Hannover lese ich:

Wegen der drei Blöcke mit den drei Schornsteinen heißt das 1962 in Betrieb genommene Heizkraftwerk Linden „die drei warmen Brüder“.

https://www.hannover.de/Kultur-Freizeit/Architektur-Geschichte/Industriekultur/Linden,-Leine,-Limmer/Station-3-Die-drei-warmen-Br%C3%BCder-Heizkraftwerk-Linden

Wikipedia:

Wegen seiner drei Kesselhäuser mit den 125 m hohen Schornsteinen wird das Werk im Volksmund Drei warme Brüder genannt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Heizkraftwerk_Linden

Bin ich zu kritisch, wenn ich diesen „Volksmund“ einfach nur homophob nenne? Na ja, der sogenannte „Volksmund“ darf alles, denn er ist gewissermaßen kulturell zertifiziert.

Wessen Stimme spricht da aus dem „Volksmund“ in Hannover. Wer hat es zum ersten mal gesagt und wer hat es dann „Volksmund“ genannt?

Eigentlich ganz einfach: wenn ich einen rassistischen/antisemitischen/homophoben Witz machen möchte, nenne ich es „Volksmund“ und bin raus aus der Verantwortung.

Denn wer will schon die Weisheit des „Volkes“ als Sprachautorität anzweifeln?

Bin mal kurz weg, auf der Suche nach weiteren hannoveraner Eigentümlichkeiten.

Ab zum Deister und ein Sonnenuntergang bei Hannover

Regen in der Vorhersage und dann dieser Blick zum Deister (foto: zoom)

Ich bin froh, dass wir heute nur eine kleine 58-km-Radtour zum und nicht übern Deister gemacht haben, denn sonst hätte ich mich verpflichtet gefühlt, die Redewendung „übern Deister gehen“ zu erläutern.

Die Runde mit Start am Sportpark in Hannover hatte ich bei Komoot herausgesucht. Sie sah ziemlich harmlos aus, was sich im Nachhinein als Irrtum erwies, denn erstens führte sie über einige holprige Waldwege und über alles, was zwischen Hannover und Deister an Bergen und Hügeln zur Verfügung stand.

Glücklicherweise ist der angekündigte Regen ausgeblieben. So blieben wir nicht im Matsch stecken und konnten auf einigen der zahlreichen Bänke am Wegesrad unsere Süßigkeitenvorräte verputzen.

Über Hannover wird noch einiges zu erzählen sein, aber für heute ist Schluss, denn die Müdigkeit ist groß.

Was bleibt ist ein Sonnenuntergang wenige Schritte von unserem Quartier entfernt. Viel weiter hätten mich die Beine auch nicht mehr getragen. Na, ja vielleicht noch zu Burger und Flammkuchen im Biergarten.

Gute Nacht!

Hannoveraner Sonnenuntergang (foto: zoom)

Umleitung: NRW-CDU, Putin, Frankreich, Harburger Gummiarbeiterinnen, Spähsoftware, Didacta gegen Opensource, Digitallehre, Hall of Fame in Dortmund, Kunst und Krieg, sowie eine radikale Wende in der kommunalen Energiepolitik.

Heute Abend am Krähenstein, dem Käppelchen mit dem elektrischen Kreuz. (foto: zoom)

Die NRW-CDU zerlegt sich im Wahlkampf: Fünf Wochen vor der NRW-Wahl wird der Wahlkampf plötzlich spannend. Nicht, weil Konzepte der schwarz-gelben Koalition die Wähler bewegen oder die Konzepte der Opposition die Landesregierung in Bedrängnis bringen. Für Spannung sorgt die Regierungspartei CDU … postvonhorn

Putin verstehen: Vladimir Putin galt als Demokrat und bewunderte Augusto Pinochet. Nachdem er sich ins Präsidentenamt trickste, beginnt er mit einer Seilschaft hartgesottener KGB-Leute, Russland zur autokratischen Despotie umzuwandeln … misik

Zur Wahl in Frankreich: Haben Demokratien ein eingebautes False-Balance-Problem? … scilogs

Parlamentarische Demokratie (Satire): „Jetzt sagen Sie mir mal ganz ehrlich: wen soll man denn heute noch wählen?“ „Die Frage ist doch wohl eher, ob man überhaupt noch wählen soll.“ „Also da bin ich ganz entschieden dafür – es gibt Länder, da gehen Menschen bei Lebensgefahr auf die Straße und demonstrieren für freie Wahlen.“ … zynaesthesie

Louise Zietz und die Harburger Gummiarbeiterinnen: 1901 – war das der erste großindustrielle Massenstreik von Frauen in Deutschland? … harbuch

Spähsoftware: EU-Kommission offenbar Ziel von Staatstrojanern … netzpolitik

Didacta wettert gegen Open-Source: Der „Didacta-Verband“ beschwert sich über landeseigene Open-Source-Lösungen an Schulen. Angebliche „Markteingriffe“ würden das Bildungssystem gefährden. Sehen da etwa ein paar IT-Großkonzerne ihre Pfründe bedroht? … digitalcourage

Digitallehre, quo vadis? Als ich heute morgen ein kleines Stück über den Campus fuhr, war nicht zu übersehen, dass sich die Kölner Universität vorgenommen hat, dieses heute startende Semester anders zu gestalten als die vergangenen vier. Bahnen und Wege waren so voll, wie ich sie schon seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte … texperimentales

Hochkarätige Graffiti- und Street-Art: „Hall of Fame“ an der nördlichen Speicherstraße in Dortmund eröffnet … nordstadtblogger

Die Kunst kann keinen Krieg beenden: Ich bin verwirrt, weil sich mir Fragen aufdrängen. Die wichtigste Frage ist wohl die, ob die Kunst in Kriegszeiten „rein“ bleiben kann. Ich möchte es absichtlich mal auf die Spitze treiben und fragen: „Reicht es, ,Imagine‘ zu singen?“ … revierpassagen

Regierungspräsident Hans-Josef Vogel: “Der Ausbau Erneuerbarer Energien liegt im überragenden öffentlichen Interesse”: RP Vogel hat im März in einem Brief an die Landrätinnen und an die Bürgermeisterinnen im Regierungsbezirk Arnsberg eine radikale Wende in der kommunalen Energiepolitik gefordert … sbl

Der Frühling kommt – was ändert sich im Blog?

So sieht es aus, wenn die Natur im Hochsauerland explodiert. (foto: zoom)

Gestern habe ich an einem ganztägigen Online-Seminar des „Reporter[sic!]-Forum“ teilgenommen. Es waren, anders als der Name es vermuteten lässt, sehr viele kluge freie und feste Journalistinnen dabei.

Auf vier je anderthalbstündigen Zeitschienen konnte man jeweils zwischen vier bis fünf Workshops wählen.

Ich war bei folgenden Themen dabei:

  • Wie Klimajournalismus im Lokalen funktionieren kann
  • Lokalmedien und Audio-Formate
  • Über Querdenker recherchieren und berichten
  • Neugründungen von Lokalmedien

Jetzt wisst ihr, warum ich den ganzen Tag im Keller gehockt habe. Zum Glück war das Wetter schlecht.

Die Wahl der Themen zeigt, in welche Richtung meine Gedanken schweifen. Über zwei Jahre lang habe ich – „aus Gründen“, wie man so schön sagt – das Blog schleifen lassen. Jetzt will ich prüfen, ob ich ohne erhöhten Zeitaufwand ein paar neu Dinge anstoßen kann.

„Ich will häufiger die lokale Brille aufsetzen“ und dabei die „großen Fragen“ nicht aus den Augen verlieren, wäre ein gutes Credo.

Die größte der „großen Fragen“ ist imho, trotz Pandemie und Krieg in der Ukraine, die Klimakatastrophe, und diese spiegelt sich auch im Lokalen wider.

Winterberg, das Hochsauerland, NRW, Deutschland, Europa und die Welt werden sich um den Preis des Untergangs verändern. Klimagase auf Null oder „der Arsch ist ab“.

Das Thema werde ich an anderer Stelle genauer aufdröseln. Hier wollte ich nur grob ein paar Punkte aufschreiben, auf die ihr mich im nächsten Jahr gerne festnageln könnt.

Das war’s eigentlich schon.

Ich werde auf keinen Fall mehr Zeit als bisher ins Blog stecken. Ich bastele gerne mit Medien herum, darum der Workshop „Audioformate“. Muss aber nicht, wenn es zu aufwändig wird.

Eine Neugründung kommt auf keinen Fall in Frage. Alles andere als das kleine selbstbestimmte, nichtkommerzielle, reklamefreie „zoom … das Sauerland und mehr“-Blog überstiege meine Ressourcen. Man soll ja nie „Nie“ sagen, aber das, was ich beim Workshop „Neugründungen von Lokalmedien“ gehört habe war: viel Zeit, viel Arbeit, wenig Geld.

In den über 13 Jahren seiner Existenz ist mir das Blog ans Herz gewachsen. Ich freue mich über die Artikel der Mitautor*innen (* oder : ? Das ist hier die Frage!). Viele sind schon sehr lange dabei, manche tauchen ab, manche wieder auf. Das Leben ist ein Wechselbad.

Am wichtigsten sind mir allerdings die Familie, Spaziergänge, Radtouren sowie kleine und große Reisen.

Ich habe vor ein paar Tagen ein paar Pflanzen und Tiere am Wegrand in der Nähe – im Umkreis von 500 m – fotografiert. Lungenkraut, Regenwurm und Pestwurz. Zu Beginn des Frühlings ist das hohe Hochsauerland sehr übersichtlich.

„Alt werden in Winterberg ist nichts für Feiglinge“ (Heinrich Lübke)

Heute lag das siebte Mitteilungsblatt 2022 der Stadt Winterberg im Briefkasten. Ich lese das Heftchen meistens noch am selben Tag, sogar die Bleiwüsten der Rats- und Ausschussprotokolle.

Unter der Rubrik „Informationen aus Rathaus und Stadt“ ist mir zuerst ein Beitrag des Seniorenbeirats der Stadt Winterberg aufgefallen.

Meine Augen haben sich an einem fett gedruckten Zitat auf Seite 5 festgesogen:

„Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“ (Arthur Schopenhauer)


Das, liebe Winterberger*innen, ist ein sogenanntes Kuckuckszitat. Hierbei handelt es sich um (angebliche) Zitate, die irgendwelchen berühmte Menschen untergeschoben werden.

Annette-von-Droste-Hülshoff, Albert Einstein, Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Heinrich Heine könnten ein Lied davon singen, wenn sie sich nicht ständig im Grabe herumdrehen müssten.

Arthur Schopenhauer hat das nie gesagt. Zum ersten Mal ist es in diesem Wortlaut in „Leipziger populäre Zeitschrift für Homöopathie[sic!]“, Hrsg. von W. Schwabe,  Bände 69-70, Leipzig: 1938, S. 188 (Link) (Ohne Zuschreibung an Arthur Schopenhauer) erschienen.

Auf der Website Zitatforschung von Gerald Krieghofer kann man nachlesen:

„Die Wendung, „X ist nicht alles, aber ohne X ist alles nichts“, taucht so ähnlich im 19. Jahrhundert auf und wird bis heute mit verschiedenen Begriffen variiert: X steht manchmal für Wirtschaft,  manchmal für Freiheit oder Sicherheit, Frieden, Stabilität oder Profit und seit 1938 auch manchmal für Gesundheit.“

Quelle: https://falschzitate.blogspot.com/2018/07/gesundheit-ist-nicht-alles-aber-ohne.html

Überhaupt hat die Stadt Winterberg ein Faible für falsche Zitate. Jedesmal, wenn ich ins Schwimmbad gehe, starren mich angebliche Weisheiten von Goethe, Ford und irgendwelchen „Indianerstämmen“ an, die nicht nach Chlor, sondern nach Kuckuck riechen. Macht euch den Spaß und blättert das Internet nach dem Ursprung dieser Zitate durch.

„Traue keinem Zitat, das du nicht selbst gefälscht hast.“ (Karl-Theodor zu Guttenberg)

Davon abgesehen macht mich das Programm der Gesundheitstage für ältere Menschen vom 25. April bis 6. Mai 2022 , welches mit dem falschen Schopenhauer beworben wird, depressiv.

Die Veranstaltungstitel sind zusammengefasst der letzte Weg zur Bahre.

  • Hospital stellt Leistungsspektrum für ältere Menschen vor
  • Hausnotruf und Erste-Hilfe im Alltag
  • Demenzerkrankung – Hilfe für Erkrankte und Angehörige
  • Fragen rund um die Pflege
  • Ernährung im Alter
  • Die „richtige“ Einnahme von Medikamenten
  • Hospizinitiative möchte Kranken und Sterbenden helfen …

Mir fehlt da was!

  • Sport und Spaß
  • Reisen
  • Kultur
  • Graue Panter gegen Rentenklau
  • überhaupt: Hobbies, Gesellschaft, Party
  • fällt euch noch was ein?

Immer lustig und vergnügt …

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Video-Link: https://www.youtube.com/watch?v=fGsGOFGBlgE
… bis der Arsch im Sarge liegt

Mehmet Daimagüler in Meschede: Kein Schlussstrich – NSU und rechter Terror in Deutschland

Mehmet Daimagüler, Opferanwalt der Nebenklage im NSU, referierte in der Alten Synagoge Meschede: „Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran.“ (foto: zoom)

Am vergangenen Samstag, dem 26. März, habe ich in Meschede eine Veranstaltung der VHS Hochsauerland zu den NSU-Morden und dem rechten Terror in Deutschland besucht. Referent im Bürgerzentrum Alte Synagoge war der bekannte Rechtsanwalt Dr. Mehmet Daimagüler, der im NSU-Prozess einige der Nebenkläger vertreten hatte.

Fast eine Stunde lang ließ er uns als ein exzellenter und geschliffener Redner aus reicher Erfahrung mit großer inhaltlicher Kompetenz in die mörderischen Abgründe unserer jüngsten Geschichte blicken.

25 Seiten habe ich mitgeschrieben und am Ende habe ich mich getraut zu denken: Deutschland wir haben ein großes Problem in Teilen des Staatsapparates und der Behörden. Ein Anfang wäre es, den Verfassungsschutz aufzulösen und die rechten Netzwerke in Polizei und Justiz zu zerschlagen.

Aber der Reihe nach. Mehmet Daimagüler war Mitglied der FDP. Es wollte auf dem Ticket der Partei Karriere machen. Auch wenn fast alle deutschen Medien von sogenannten „Döner-Morden“ sprachen und damit die Täterschaft in ein türkisches Drogen- und Bandenmilieu verschieben wollten, „wussten wir, meine Freunde, meine Bekannten, das müssen Nazis, Rassisten sein.“

Der Rechtsanwalt prüft noch heute sein damaliges Handeln. „Was habe ich eigentlich damals unternommen? Nach den Morden in Kassel und Dortmund waren dort vier- bis fünftausend Menschen auf der Straße. Ich war nicht auf Demos, ich war im Bundesvorstand der FDP.“

Seine politischen Freunde, wie bspw. Westerwelle, habe er nicht auf die falsche Richtung der Ermittlung angesprochen, denn „wenn du etwas sagst, wird dich das Stimmen auf dem Parteitag kosten.

Als ihn die Tochter eines Mordopfers bat, sie als Vertreter der Nebenklage vor Gericht zu vertreten, fragte er sich, ob ihn sein damaliger politischer Opportunismus nicht disqualifiziere?

Das, so die Tochter, sei dann sogar ein besonderer Grund.

Im Laufe der Zeit habe er dann zehn Menschen aus drei Opferfamilien repräsentiert.

Sein Plädoyer im NSU-Prozess ist als Buch erschienen [1]. Das habe ich mir gleich nach der Veranstaltung besorgt.

Was mir vom Nachmittag in der Alten Synagoge besonders in Erinnerung geblieben ist:

1. Das V-Mann-System

2. Die Einzeltäter-These

3. Das Schreddern bzw. Vorenthalten der Akten

4. Warum Kleinstunternehmer mit meist türkischem Migrationshintergrund?

5. Die lange Spur vor und nach den NSU-Morden

6. Die Rolle von Antisemitismus, Rassismus

7. Die Perfidität des „Döner-Mord“ Framings

8. Die hochgradige Vernetzung des NSU

9. Das Fazit

1. Das V-Mann-System

Ich habe früher gedacht, dass V-Leute so eine Art untere Ränge des Verfassungsschutzes (VS) seien. In Meschede habe ich gelernt, dass V-Leute vom VS aus der Szene angeworben werden. Es werden nicht die kleinen, dummen Nazis als V-Leute geführt, sondern bevorzugt die schlauen Nazi-Kader, also diejenigen, die eine große Rolle (Organisatoren, Vorstände, Hauptdrahtzieher usw.) spielen. Diese V-(oft)Männer werden von sogenannten V-Mann-Führern[sic!] „betreut“, also Beamten des VS, die einen Eid auf die Verfassung abgelegt haben. Begehen die V-Leute Straftaten, werden sie von ihren „Führern“ in der Regel gedeckt. Treffen zwischen V-Leuten und ihren VS-Führern sind meist konspirativ, bspw. auf Parkplätzen. Der V-Mann berichtet, der V-Mann-Führer gibt ihm Geld. Wenn es nichts aus der Szene zu berichten gibt, kann der V-Mann dafür sorgen, dass es Neuigkeiten gibt. Also bspw. zwei Tage vor dem konspirativen Treffen für die Nazi-Kumpel eine Sauf-Party veranstalten, danach „Ausländer klatschen“, besoffen Nazi-Sprüche grölend durch den Stadtteil ziehen und Scheiben einschlagen, und schon gibt es etwas zu berichten. Der V-Mann-Führer schreibt fleißig mit und am Ende gibt es Geld.

2. Die Einzeltäter-These

Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren äußerst vorsichtig und fuhren stets nur mit Mietwagen zu den Tatorten, aber auch bspw. in den Urlaub. Die gefahrenen Kilometer sind recherchiert und decken sich mit den bekannten Fahrten. Es bleiben keine Kilometer übrig. Das bedeutet, dass das Trio die Anschlagsorte und potentiellen Opfer nicht selbst recherchiert hat. Sie mussten also Tipps und Recherchen der lokalen Nazi-Szene genutzt haben. Der NSU war (?) Teil eines Netzwerks.

3. Akten schreddern

Oft wurden sehr zeitnah nach den Taten in großem Ausmaß von den Behörden Akten geschreddert. Noch vorhandene Akten wurden als geheim deklariert und nahezu unzugänglich archiviert. Es liegt auf der Hand, dass damit Aufklärungsarbeit verhindert wird.

4. Warum kleine Gewerbetreibende mit türkischem Migrationshintergrund?

Es gibt Hinweise darauf, dass Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in Berlin die beiden Synagogenen checkte, denn eigentlich wollten sie Jüdinnen und Juden ermorden. Sie haben aber die dortigen Sicherheitsmaßnahmen gesehen und da ( siehe 2) sie sehr vorsichtig agierten, fielen jüdische Einrichtungen als Ziel aus.

5. Der NSU ist die Nachfolgeorganisation des brandgefährlichen „Thüringer Heimatschutzes“. Nazi-Verbrechen, rassistische Anschläge und Morde (Hoyerwerda, Solingen, …) fanden schon lange vor der NSU-Mordserie und auch danach (München, Hanau, Kassel, …) statt.

6. Die Rolle von Antisemitismus, Rassismus

Flüchtlinge, Deutsche mit Migrationshintergrund, Politiker wie Walter Lübcke, die sich für Flüchtlinge einsetzen – der unmittelbare Antisemitismus und Rassismus ist offensichtlich. Bei den Ermittlungsehörden war und ist Rassismus kein zentales Thema. Der Staat wollte nicht über das Thema reden.

7. Die Perfidität des „Döner-Mord“ Framings

Mit 6. hängt das „Framing“ der Morde als „Döner-Morde“ zusammen. Medien, aber eben auch die Ermittlungsbehörden und Polizei gingen unmittelbar davon aus, dass die Opfer aus einem kontruierten sogenannten eigenen Milieu ermordet wurden: Kriminalität im türkischen Drogenbandenbereich. Die Opfer wurden zu Tätern gemacht. Das rechte Auge von Polizei war und blieb blind. Ermittlungen in die richtige Richtung unterblieben. Wichtige Zeugenaussagen wurden nicht verfolgt.

8. Die hochgradige Vernetzung des NSU

Wie unter 2. beschrieben, muss man davon ausgehen, dass der NSU kein Trio, sondern ein wahrscheinlich immer noch existierendes Netztwerk ist.

9. Das Fazit

Der NSU-Prozess war eine „verpasste Chance in den Abgrund zu schauen“.

Mehmet Daimagüler: „Wenn wir die offenen Fragen nicht beantworten, dann ist nach dem NSU vor dem NSU. Alles was in der Verfassung steht, bleibt leeres Papier, wenn wir nicht bereit sind, die Verfassung zu leben.“

Am 9. März 2022 hat die deutsche Bundesregierung Mehmet Daimagüler zum ersten Beauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Sintize sowie Roma und Romnja in Deutschland ernannt.

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[1] Mehmet Daimagüler, Empörung reicht nicht! Unser Statt hat versagt. Jetzt sind wir dran, Mein Plädoyer im NSU-Prozess, Köln 2017, 350 Seiten, ISBN 978-3-7857-2610-5

Pausenbild: Der 2. April lädt ein. Nehmen Sie Platz!

Die Party kann steigen. Es sind noch Plätze frei. (foto: zoom)

Auf meinem Dorfspaziergang habe ich heute ein Rotkehlchen, drei Stühle, einen Tisch und eine Feuerschale gesehen. Heute ist nicht der 1. April.

Der Grillplatz am Wegrand sieht einladend aus, wenn man sich den Schnee hinweg und die warme Sonne dazu denkt.

Die geplanten Radtouren nach Kassel, durch das Ruhrgebiet oder an der Rhein müssen noch ein wenig warten.

Oder würdet ihr losfahren? Dann schimpft mich Weichei.